Gerade erst brach der erste Jahrestag über mich herein. Vor einem Jahr, am 23.11.2011, stach ich in See. Und nun? Feiert man so was? Und wenn doch, wie lange? Für neunzig Tage, solange wie es brauchte um in Barbados anzukommen?
Ein Jahr also ist es her, dreihunderdfünfundsechszig Tage. Geht also auch vorbei, irgendwie. Wie alles im Leben. Aber hätte ich mir das damals vorstellen können? Was hatte ich denn erwartet, wie ich mich heute fühlen würde, neuntausend Stunden später?
Ich hatte keine Ahnung PUNKT
So viele Fragen stopfte ich mir in Portugal in die Taschen, und erhoffte mir, da draußen die Antworten finden zu dürfen. Ich meinte, ich hätte dann sicher einen noch verrückteren Plan fürs Leben, wüsste was ich als Nächstes beruflich wagen möchte, in Zukunft auf dem Ozean plane, wie ich das Ding mit dem Älterwerden in den Griff bekomme, gesünder lebe und vor allem: wie ich einfach Richtiges und Gutes tue. So Sachen eben.
Nur die Antworten die ich mir erhoffte, die fand ich nie. Nicht da draußen, nicht zurück an Land. Vielmehr erscheinen mir die Fragen heute richtiggehend naiv. Schon nach vier Wochen auf See stiegen andere Fragen in mir auf. Ich war auf alles vorbereitet, meinte ich. Aber nicht auf diese Fragen, auf diese Zukunft, auf den heutigen Tag. Die Fragen die mich heute antreiben sind gänzlich andere – das ist es, was im Kern die Veränderung beschreibt: Die Fragen haben sich verändert.
Die Einsamkeit da draußen hat etwas in mir angestoßen, zweifellos. Meine Perzeption der Welt wurde bunter, auf einem blauen Ozean, vorm blauen Horizont. Dort, wo sich sonst meist nur Blau und Blau zu Sonnenblond vermischt, das dann als nasser Farbklecks in den Himmel steigt, und zurück in die See tropft. Aus Blau und Blond wurde plötzlich sogar schimmerndes Meeresgold.
Doch zurück im Großstadt-Dschungel, begann ich unter dem Strahlen dieses Schatzes zu leiden. Zu bunt, zu laut, zu viel – und nichts davon von großer Bedeutung. Was ich intellektuell immer längst zu wissen meinte, tat plötzlich weh, wo ich es wirklich begriff: „Hier stimmt etwas nicht!“
Wir jagen falschen Werten hinterher, und fürchten auch noch sie zu verlieren, wo wir sie nur endlich in den Händen halten. Ängste und Begierden. Unsere Sinne degenerieren in diesem Spiel. Die Welt wurde wieder blau und gelb. Stunde um Stunde ein bisschen mehr. Dieser Prozess war greifbar, die Welt zerlegte sich vor meinen Augen in die absolut notwendigen Basisfarben.
Ich habe gelernt -und lerne noch immer- mich dem zu verweigern. Es ist ein schwieriger Prozess, aber auch aufregend, überraschend, gut. Es ist überwältigend um ehrlich zu sein. Ein größeres Abenteuer als eine Ozeanquerrung im Ruderboot, in jedem Fall. Aber das ist eine lange Geschichte.
Was in den letzen 12 Monaten also passiert ist?
Aus mir wird einer dieser verschrobenen Charaktere, die ich früher immer belächelt habe. Ich verliere mich wieder in wunderbaren Kleinigkeiten, stelle mich meinen größten vorstellbaren Ängsten und mache meinen Frieden mit mir und der Welt. Und plötzlich finde ich das Verschrobensein ganz großartig. „Rudern für die Stille“ – vor 12 Monaten hatte ich keinen Schimmer, was „Stille“ noch alles bedeuten könnte. Vor allem für mich. Ich komme an in der Stille, in einer schreienden Welt. Ich finde und verändere mich, und mit mir verändert sich die Wahrnehmung, die Interpretation der Welt. Dinge die ich jahrelang erzwingen wollte, und oft darin scheiterte, passieren einfach von allein und nebenbei, oder lösen sich in Bedeutungslosigkeit auf. Alles fügt sich zusammen zu einem einzigen Punkt in Zeit und Raum: Dem ICH im JETZT, im Moment. Klingt vielleicht ernüchternd, aber jeder einzelne Ruderschlag der mich hierher brachte, wurde mit Meeresgold vergütet. Ein Vermögen für die Sinne!