Alle ideologischen Gesellschafts-, Sozial- und Wirtschaftssysteme, die vom Menschen ersonnen und konstruiert wurden, waren nicht für den Menschen der Gefühle und der Gemeinschaft gemacht. Und so wurden die Menschen immer klüger, aber immer kälter … und so planten sie immer weiter. Bis sie clever genug waren, sich selbst zu täuschen und einzureden, wie menschlich und weise sie doch geworden waren. Dabei hatten sie ihre wahre Natur ebenso zerstört, wie die Natur vor ihren abgedichteten und doppelverglasten Fenstern. Hermetisch abgeriegelt. so wie ihre Herzen. Sie hofften und heuchelten sich eine heile Welt zusammen, von Leid und Kälte wollten sie nichts hören, – aber insgeheim waren sie doch fasziniert davon und erweckten das Verborgene in Filmen und Büchern zum Leben. Dort blieb es fiktiv und schien beherrschbar, – doch sie konnten das Verborgene nie wirklich beherrschen, immer wieder brach es auf und zeigte sich. Millionen Male ging in ihren Kinos die Welt unter. Dort feierten sie sich als Superhelden, auf ihren Straßen ließen sie aber die Menschen erfrieren, an ihren Stränden ließen sie sie ertrinken. Ihre Welt war ein großes Theater. Ihre Almosen feierten sie als Barmherzigkeit. Ihre Dankbarkeit war die Bestätigung und Dankbarkeit der anderen, und wehe, sie blieb aus! Ihr Vertrauen war die Gewissheit; ihre Geborgenheit war die Sicherheit; ihr Mitgefühl war ein Handel; ihre Demut war die Angst … ihre Liebe hatte immer einen Preis.
Wir alle aber wurden als hochsensitive Wesen geboren, doch gleich den beiden Gefangenen in Platons Höhle, bleibt uns letztlich nichts anderes übrig, als in eine Welt der Schatten hineinzuwachsen, die von einem Feuer an die Wand geworfen werden. Und irgendwann halten wir die zweidimensionalen Schatten, die Umrisse und Formen anderer Menschen und Tiere für die Wirklichkeit und geben uns damit zufrieden. In dieser Welt wähnen wir uns dann als Könige, dabei liegen wir in Ketten. Kommt einer aber von draußen und erzählt uns von der hellen Sonne und der Tiefe des Meeres, halten wir ihn für verrückt. Natürlich ist das nur eine Metapher.
Die Welt der Schatten ist die Welt die Gedanken, und wurden wir erst einmal in ihr eingesperrt, begegnet uns kaum mehr die wirkliche Welt, sondern nur mehr ihr Echo im Kopf … Erwartungen, Erklärungen, Vorstellungen, Meinungen. Die ständige Überreizung mit viel zu vielen Eindrücken und Informationen zwingt den Menschen aus dem Erleben im Augenblick heraus, – er kommt einfach nicht mehr zur Ruhe. Die Reizschwelle wird angehoben, sagt man – und genau dieser Filter, genau das ist das Denken! – alles wird beurteilt, kommentiert und bewertet. Sonst würde man es gar nicht ertragen. Als wäre alles eine einzige Aufgabe oder eine Bedrohung.
Als ich nach Monaten allein auf dem Ozean zurück an Land kam, waren meine Sinne wieder vollständig geöffnet. Ich fühlte mich wie in meine Kindheit zurückversetzt: die Erdbeeren schmeckten wieder genauso intensiv wie früher, – die Farben der Welt, die Pflanzen, die Vögel … rührten mich zu Tränen. Berührungen, Düfte – himmlisch! Ich hätte mir gar nicht mehr vorstellen können, dass man die Welt SO erfahren kann! Als ich dann in einen Supermarkt ging, fühlte ich mich völlig überfordert, alles war viel zu künstlich bunt und bettelte um Aufmerksamkeit. Und da war stets dieser menschgemachte Lärm überall: schnelle Autos, große Worte, endlose Informationen und Nachrichten, unendliche Möglichkeiten – kaum auszuhalten. Terror für meine Sinne – meine Gefühle kamen gar nicht mehr mit. Ebenso erschöpften mich plötzlich die meisten Gespräche, ich konnte regelrecht dabei zuschauen, wie mir meine Energie, meine Seele, aus dem Leib heraus gezogen wurde und meine Scheuklappen wieder hochfuhren. Dann braucht man wieder was im Außen, um aufzutanken. Aber alles verlor nach und nach seine Seele, seine Tiefe und wurde immer konstruierter und oberflächlicher, und entsprechend immer leerer … und immer lauter!
Je mehr ich mich wieder dem Tempo und der Musik der modernen Welt anpasste, um ganz normal zu funktionieren, desto mehr verlor die Welt ihren unvorstellbaren Zauber. Und steckt man dann erstmal ein paar Wochen wieder in diesem nüchternen, flachen Erleben, da hat man sich auch schon wieder daran gewöhnt. Es erscheint einem das Normalste der Welt, und an die intensive Gefühle vorher vermag man sich gar nicht mehr erinnern, kein Wunder, waren sie ja gerade keine Gedanken, sondern Gefühle … wie will man das erinnern, zurück im Kopf, , zurück im Gedankenwald!
Ich wollte mich unmöglich mit diesem Zustand abfinden, um einfach nur wieder zu funktionieren, um dann von Spektakel zu Spektakel zu eilen, damit mal wieder was über meine Reizschelle, – an den Gedanken vorbei! – ins Herz gelangt. Also blieben mir nur drei andere Möglichkeiten: Ich konnte wieder davonlaufen, ich könnte mir hier einen „Raum der Stille“ erschaffen und mich abgrenzen, oder es gelänge mir auf anderem Wege, offen und berührbar zu bleiben, und damit auch verletzbar!, ohne aus dem Feuer gegen zu müssen.
Sieben Jahre später komme ich jedenfalls zu folgendem Schluss: Schaue ich mir den Zustand der Welt und die Menschen an, scheinen die meisten tatsächlich in einer Schattenwelt zu leben. Regelrecht leer und dissoziiert … abgespalten von ihrem wahren Wesen. Weniger aufgrund eines einzelnen traumatischen Erlebnisses, sondern vielmehr als Folge einer chronischen Überreizung auf der einen Seite, und einer mangelnden Aufarbeitung und Genesung nach realen einschneidenden Erlebnissen, auf der anderen Seite, die keinem Menschen im Leben erspart bleiben. Stattdessen wird der Intellekt von Kindesbeinen an geschult und hochgezogen, damit man das alles auch aushalten, filtern, rechtfertigen und erklären kann. Und vor allem: damit man sich ständig neue Ziele setzen kann und ein Karotte vor der Nase hat. Immer etwas im Fokus, aber Achtsamkeit und Bewusstsein im gegenwärtigen Moment: unmöglich! Immer unterwegs, stets nach vorn schauen, nur nicht zur Seite und niemals in sich selbst hinein! Zukunft oder Vergangenheit, Grund oder Ziel, Hoffen oder fürchten, träumen oder bereuen, aber so wenig SEIN, so wenig JETZT! Ständiges Wachstum und Veränderung, immer auf der Reise! – das ist das Krebsgeschwür des Geistes, wenn er ungebremst wächst. Und alles wird dann auf sich selbst bezogen, – wer hat das denn nötig, außer einer, der meint, auf sich aufpassen und sich schützen zu müssen. Das Ego ist doch nichts anderes, als ein Mangel an Vertrauen. Höre ich mein Ohr selbst, habe ich einen Tinnitus, sehe ich mein eigenes Auge, ist es vielleicht ein Grauer Star … genauso ist es mit dem Ego.
Kein gesunder Mensch kann einen Blick in diese Welt werfen und dann einfach nur so weiter machen, wie bisher. Kein gesunder Mensch könnte wegschauen, wenn andere hungern, leiden, sterben. Es spielt keine Rolle wie klug wir uns wähnen, – wie dumm wir wirklich sind, das lässt sich nur daran ermessen, wie Menschen miteinander leben und wie sie mit dem Planten umgehen, den sie ihre Heimat nennen – und letztlich, was sie wirklich noch mit den Sinnen wahrnehmen in einer geheuchelten Welt des großen Theaters und der inszenierten Dramen. Erich Fromm hatte Recht: »Die normalsten sind die Kränkesten und die Kranken sind die Gesunden.« Es sind die, die nicht mehr recht mitkommen, die tatsächlich noch ein Herz haben, das funktioniert.
Das Wunder der Welt und des Lebens, es hat keinen Preis, es kostet keine Anstrengung, es ist bedingungslos zu erfahren. In jedem Augenblick. Die Erfüllung ist das Erleben, das ewige Streben erzeugt nichts als Gefühle des Mangels. Doch die Gedanken werden sich die Zähne am unvorstellbaren Augenblick ausbeißen, bis dem Menschen am Ende alle seine Zähne fehlen und seine Zeit hier, in der er auf dem Zahnfleisch ging, endgültig abgelaufen ist. – jj.