Depressionen begleiten mich schon mein ganzes erwachsenes Leben lang. Meist akut und schwer wie ein Vorschlaghammer, aber auch immer wieder im Verborgenen die Fäden spinnend, – chronisch, larviert, somatisch und unterdrückt. Oft verstand ich auch erst hinterher, dass ich mir selbst und anderen wieder etwas vorgemacht hatte, und uns allen Glück und Leichtigkeit nur einredete, was Dank sozialer Netzwerke, großer inszenierter Spektakel und oberflächlicher Freundschaften auch nicht sonderlich schwer fiel.
Jede wirklich ausgedrückte und durchlebte depressive Episode aber brachte ihr ganz eigenes Lerngeschenk mit sich, und zwang mich schonungslos auf eine höhere Stufe des Selbstbewusstseins und der Authentizität. Ich empfinde die Depression inzwischen nicht mehr als Krankheit, sondern begreife sie als eine höchst gesunde Reaktion auf kranke und toxische Umstände, gegen die die meisten Menschen einfach nur durch Gewöhnung, Verdrängung und Resignation immun geworden sind. Anstatt die Depression nur zu dämonisieren und zu bekämpfen, begann ich damit, mich ihr gütig zu nähern und sie als Vertraute im Kampf gegen Fremdbestimmung, Selbstbetrug und Selbsttäuschung zu begreifen. Was wir unterdrücken, machen wir ohnehin nur stärker. Also denke ich, der Weg heraus, ist der Weg hindurch. Alles was dabei tatsächlich geschieht, ist, dass ich mich mir selbst und meinen wirklichen Gefühlen noch weiter zuwende, anstatt sie zu unterdrücken, zu betäuben und mir mit großem Theater andere Gefühle einzureden. Die Depression verliert dann ihren Schrecken, wenn ich ihr ins Gesicht schaue, und sie als das erkenne, was sie wirklich ist…, als meine tiefste Sehnsucht nach meinem authentischen Ich und nach authentischen Menschen um mich herum, und als mein ehrlichster und weisester Ratgeber in einer Welt voller Blender und falscher Propheten.
Da diese Zeilen gestern für reichlich Kritik sorgten, möchte ich meine Geschichte nun ganz erzählen, und erklären, wie ich zu diesem Schluss komme. Das wird ein langer, dafür aber offener Text …
Die erste schwerere depressive Episode überraschte mich Anfang zwanzig, wobei ich eine ganze Weile nicht begriff, was da eigentlich mit mir nicht stimmte. Ich quälte mich morgens nur noch aus dem Bett, musste mir drei Wecker stellen, um überhaupt einen zu hören, schleppte mich auf Arbeit und konnte mich für nichts mehr entscheiden, – nicht einmal dafür, welche Pizza ich mir in die innere Leere reinstopfen sollte. Salami, Schinken, Pilze, das glich Entscheidungen, die sich so schwer gestalteten, als ob mein Leben auf dem Spiel stünde. Ich war müde, aber aller Schlaf der Welt half nichts. Dazu überkam mich eine große Angst vor ganz alltäglichen Situationen, und vor allem, vor zu vielen Menschen, – was ich so eigentlich nicht kannte. Wenngleich ich als Kind eher introvertiert und in mich gewandt war, hatte ich mich eigentlich ganz gut mit anderen Menschen „arrangiert“. Mehr und mehr aber fühlte ich mich in ihrer Gegenwart überfordert, hilflos und verloren. Und vor allem schrecklich allein irgendwie … inmitten all der Menschen.
Als ich meiner Hausärztin dann ironisch eröffnete, dass ich eine große Leidenschaft für hohe Autobahnbrücken entwickelt hatte, stimmte sie nicht mit in meine Begeisterung ein, sondern diagnostizierte mir stattdessen eine ernste, mittelschwere Depression. Wie unlustig! Die üblicherweise als erstes verordneten Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRIs) schlugen gut an, dennoch holte mich die „Erkrankung“ immer wieder ein, wenn ich die Pillen absetzte. Ich kam einfach weder aus dem Loch heraus, noch von den Autobahnbrücken weg. Dann traf ich unter der Kochertalbrücke, von der ich mich am Liebsten 185 Meter in die Tiefe stürzen wollte eine der mutigsten Entscheidungen in meinem Leben. Ich stellte mich endlich meinen unvernünftigen Träumen, meinen zwiespältigen Gefühlen und mir selbst: Wenn ich schon sterben will, habe ich auch nichts mehr zu verlieren, mein Leben mal so zu leben, wie ich es mich nie traute bisher. Falls es schief geht, konnte ich ja immer noch springen! Manchmal muss man erst richtig gegen die Wand laufen, damit man endlich bereit ist die Richtung zu ändern. Das ist „die Chance jeder Krise“, wenn man sich richtig darauf einlässt. Dann tut es zwar einmal richtig weh, aber dann hört man wenigstens damit auf, sich unentwegt an der gleichen Tür Beulen zu holen. Wenn sie sich nicht öffnet, ist es eben nicht unsere Tür. Dann wird es Zeit, eine andere zu suchen.
Es war damals vor fast zwanzig Jahren noch nicht ganz so einfach, wie heute, rezeptpflichtige Medikamente illegal im Internet zu bestellen, und vernünftig war es auch nicht. Aber ich folgte meinem naiven, jungen Herzen und hatte auch reichlich Schiss davor, dass sie mich dafür wegsperren würden am Ende. Etwa vier Wochen nach meiner Bestellung wurde mir ein kleines Päckchen aus England zugestellt, von der Post, nicht von der Polizei. Glück gehabt. An diesem Tag begann mein zweites Leben, und es war das härteste, aber mit Abstand ehrlichste, intensivste und schönste Leben in meinem bisherigen Leben. Mit dieser gewaltigen Entscheidung geriet alles in einen Fluss. Die Depression verschwand schlagartig und auf sehr lange Zeit. Ich setze mir die erste Spritze, die ich Internet bestellt hatte, und dann ging eigentlich alles ganz schnell und von allein: Zuerst verlor ich wirklich alle meine alten „Freunde“, dann flog ich aus der WG und musste mich daran gewöhnen, dass mich fortan erst einmal jeder Mensch, der mir über den Weg läuft, seltsam mustern wird, wenn nicht gar auslachen. Ich fühlte mich zwar immer noch wie der einsamste Mensch auf diesem Planeten, aber ich hatte mich entschieden, zu mir selbst zu stehen. Und dieses Gefühl war unbeschreiblich! Ich gegen den Rest der Welt, großartig! Es dauerte einige Jahre bis ich mit dem Prozess wirklich durch war. Mit den Östrogen-Spritzen begann sich mein Körper zu verändern, bald folgten Operationen und am Ende zwei Gerichtsbeschlüsse, die meinen Namen und mein Geburtsgeschlecht offiziell auf „Janice / weiblich“ änderten. So „einfach“ war es damals mit der Depression, sie zwang mich nur dazu, Entscheidungen für mich selbst zu treffen, Verantwortung über mein Leben zu übernehmen und aufzuhören, eine Lüge zu leben. Damals unvorstellbar, heute unvermeidlich.
Die zweite heftige Depression erwischte mich Ende zwanzig. Gerade dann, als endlich die ganzen Schulden für die Operationen abgezahlt waren. Der komplette Sinnlosigkeitsverdacht holte mich wieder ein. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich herausfand, was diesmal das Problem war, denn mein Körper war nun endlich so, wie er sein sollte. Es war der Alltag der mich wieder zermürbte! Vor allem sah ich keinen Sinn mehr darin, mich morgens weiter auf die Arbeit zu schleppen, um dort den ganzen Tag vor einer Flimmerkiste mit Tastatur zu hocken. Eigentlich hatte mir mein Job mal Freude gemacht, ich war bei einem großen IT-Konzern in der Chemniebranche gelandet, installierte, wartete und reparierte Computer-Netzwerke auf einem gewaltigen Campus. Die Aufgaben waren abwechslungsreich, jeder Auftrag auf seine Weise ein kleines Abenteuer. Doch irgendwann saß ich nur noch vor einem Computer und koordinierte die Einsätze. Ging ich abends nach Hause, stellte ich mir unentwegt die Frage, wovon ich eigentlich so müde war, es fühlte sich nicht wirklich nach Arbeit an, was ich da tat. In mir erwachte eine neue Sehnsucht. Ein großes Fernweh, eine große Lust nach Abenteuer. Aber meine dreißig Tage Urlaub im Jahr deckten das einfach nicht ab. ‚Da muss doch mehr Leben ins Leben!‘, dachte ich, ‚Das kann es doch nicht gewesen sein!’ Ich wurde immer häufiger krank, zog mich mehr und mehr zurück von Partner, neuen Freunden und Kollegen. Ich saß gern Zuhause am Computer, aber eigentlich vor allem, um zu schreiben. Ich träumte wieder davon, Schriftstellerin zu werden. Das war der andere Traum, der mich seit meiner Kindheit begleitete. Aber worüber sollte ich denn schon schreiben und was hatte ich schon zu erzählen? Ich wagte mich an meinen zweiten Roman im Leben, er trug den Titel „Sieben Grad“ und landetet nach etwa sieben Wochen ebenfalls im Papierkorb. Das wurde nichts mit dem Schreiben. ‚Ich konnte vieles, aber halt nichts davon richtig‘, meinte ich. Und irgendwann waren sie wieder da, die Brücken von denen ich springen wollte. So einfach. Was soll ich hier, ich passe nicht in diese Welt! Und oft fragte ich mich, ob Virginia Woolf die gleichen Zweifel hatte, bevor sie sich in den Fluss stürzte? Das tief in ihr drin auch nichts gut genug war, von dem, was sie vermochte und war. Das nichts diese innere Leere stopfen kann, wo sie sich erst einmal auftut.
In meiner Hilflosigkeit schmiss ich meinen Job hin und machte mich überstürzt erstmal selbstständig. Dann begann ich eine Therapie gegen die Depressionen in einer renommierten Klinik. Ich brauchte Hilfe, ich schaffte das nicht mehr allein. Die Menschen um mich herum waren überfordert, versuchten mich zu stützen, aber emotional war eben keiner da, wo ich wirklich stand. Niemand konnte mich wirklich erreichen, und gutgemeinte Ratschläge hatte ich zum Kotzen satt. Jeder Arzt verpasste mir eine andere Diagnose und Erklärung: Ich schluckte unzählige Medikamente, bis ich irgendwann das Gefühl hatte, mich zu stabilisieren und wenigstens zu funktionieren. Eigentlich fühlte ich gar nichts mehr richtig, und wenn ich doch einen Heulkrampf bekam, gaben sie mir gleich Beruhigungsmittel, damit ich damit aufhören würde. Wie in Watte gepackt lief ich durch die Straßen. Alles war erträglich mit diesen Medikamenten, aber nichts war mehr lebendig wirklich, und vor allem sah ich aus wie ein aufgequollenes Michelin-Männchen. Ich erinnere mich genau daran, wie ich an einem Morgen die Wendeltreppe in meinem Apartment herunterlief und mich wie ein Zombie aus dem Film am Vorabend fühlte. Ich setzte trotz Warnungen abrupt alle Medikamente ab, – dann lieber depressiv, dachte ich! Die nächsten Wochen waren eine Katastrophe, weil die Symptome beim Absetzen durchaus denen einer Epilepsie gleichen. Dann eben erstmal weglaufen, dachte ich … weit, weit weg! Das hatte ich noch nie versucht. Aber wohin?
Als ich in San Franscico über die Golden Gate Bridge lief zog es mir regelrecht den Boden unter den Füßen weg. Suizidgedanken kannte ich ja schon, aber dass man die Kontrolle über sie verliert und diese negative Energie gar nicht mehr steuern kann, das kannte ich erst seit ein paar Wochen. Ein unfassbar schreckliches Gefühl, wenn einem die Selbstverantwortung derart entgleitet und man beim Autofahren die Augen schließt. So leicht wäre es. An den Brückenpfeilern hingen überall Schilder mit einer Notrufnummer drauf, die man wählen sollte, wenn man wirklich beabsichtigte hier herunterzuspringen. Und ich wusste, wie viele Menschen sich von dieser Brücke bereits in den Pazifik gestützt hatten. Mir wurde wohlig-schwindelig bei dem Gedanken, dass auch ich jetzt nur über die Brüstung klettern müsste und es wäre vorbei. Aber leider hatte ich den Film über diesen jungen Mann vorher gesehen, der exakt diesen Sprung, an exakt dieser Stelle schwer verletzt überlebt hatte. Ich konnte es nicht. Aber irgendwas musste sich *fucking* ändern … und ich wusste nicht mehr was. Ich wusste nicht mehr weiter.
‚Dann also los! Weg hier und raus aufs Meer!‘, dachte ich, als ich vor einem Hochsee-Ruderboot am Pier in San Francisco stand. Das Boot stand einfach da, das Meer rauschte im Hintergrund. ‚Dann eben Abenteuer und alles hier loslassen. Ich machs, ich rudere über einen Ozean! Warum denn nicht? Besser als weiter durchs Leben zu rudern.‘ Eine innere Stimme wies mir den Weg, mein Bauchgefühl sagte JA!, meine Vernunft hatte Sendepause. Die Depression verschwand mit dieser Entscheidung! Nur eine Entscheidung! Wie ein Schalter der in mir umgelegt wurde, war ich plötzlich nach Monaten absoluter Sinnlosigkeit wieder erfüllt von Sinn, Energie und Tatendrang. Und von diesem unbeschreiblichen Gefühl der Freiheit! Oft wurde ich gefragt, wie man nur auf so eine Idee kommt. Nun, ich hatte einfach keine bessere.
Etwa zwei Jahre benötigte ich, um dieses Abenteuer zu planen und umzusetzen. Wie schon Anfang zwanzig, erneut eine ungemein intensive Zeit, mit einem klaren Ziel vor Augen. Alles geriet wieder in „diesen Fluss“, alles fand und fügte sich. Unbeschreiblich! Niederlagen waren einfach nur Niederlagen, – wie beim Laufenlernen: man fällt, aber man steht auf und macht weiter. Und irgendwann steht man sicher und läuft! Man begegnet neuen Menschen auf so einem Weg, die ähnlich „verrückt“ sind, – aber man stellt auch fest, dass in dieser Welt viele Schwätzer und Energievampire nur darauf warten, von deiner Energie was mitzunehmen.
Und dann, am 23. November 2011 stieg ich in Portugal in mein Boot und ließ alles hinter mir zurück. Ich ruderte drei Monate lang und 6500 Kilometer weit über den Atlantischen Ozean, bis nach Barbados. Ganz allein.
Es ist kaum in Worte zu fassen, was diese Entscheidung in meinem Leben alles bewegt hat und was mir da draußen widerfahren ist. Und nach meiner Rückkehr hatte ich plötzlich etwas, über das ich schreiben konnte und bekam sogar einen Vertrag über ein erstes Buch. „Tosende Stille“ wurde mein erster Bestseller. „Freut euch nicht zu spät“, mein zweites, mein Seelenbuch, schaffte ebenfalls den Sprung auf die SPIEGEL-Liste. Bis zum dritten Buch „Liebe“ lief es eigentlich ganz großartig. Hunderte Interviews, Artikel, Talkshows, Lesungen und Vorträge. Dieses Leben glich fast einem Rausch, ich lebte eigentlich nur noch auf der Autobahn. Großartig!
Und doch wusste ich, dass auch dieser „Erfolg“ nicht die Antwort für ein Leben ohne Depressionen sein würde. Man kann die äußeren Umstände ändern wie man will, aber nur wo man es dann auch wagt, begreift man vollumfänglich, dass Glück und Zufriedenheit eigentlich eine Frage der inneren Einstellung sind, und eben nicht der Umstände. Denn alles ist vergänglich, alle Umstände können sich ändern und jeder Umstand droht irgendwann zur Routine zu werden, die uns dann lebt, anstatt dass wir frei leben.
Die Erfahrung, so allein auf dem Ozean, hatte mich weit über meine Grenzen hinaus geführt. Immer dann, wenn nichts mehr ging und alles hoffnungslos erschien, öffnete sich unerwartet eine neue Tür und zeigte mir einen Ausweg. Ich mag dieses Bild als Allegorie: Als ich eine Woche in den Stürmen auf See verloren hatte und mich auf völlig falschem Kurs nach Norden befand, warf ich in einer schweren Gewitternacht den Sturmanker in der Kreuzsee aus und hörte auf mich gegen die Natur zu stemmen. Am nächsten Morgen erwachte ich, die See war glatt. Da begegnete mir mein Wal „Tilly Willi“. Zwei Wochen lang war ich dann wieder in die richtige Richtung unterwegs, jetzt mit einem Wal an meiner Seite. So ganz langsam begriff ich, dass die Kunst im Leben das Vertrauen & Loslassen ist. Vor allem dann, wenn man nicht mehr weiter weiß. Und wenn man aufhört, sich etwas konkret vorzustellen, was geschehen sollte oder müsste, dann können erst ganz andere wunderbare Dinge geschehen.
Und nun bin ich 41 und wieder einmal weiss ich mit dem Kopf nicht weiter. Die letzten sieben Jahre waren eine unfassbar abenteuerliche Reise in mich selbst und tief in mein Herz und meine Seele. Alles begann mit dem Ozean. Immer wieder suchte ich hier dieses Gefühl von Freiheit, das ich da draußen erfahren habe, diese Lebendigkeit! Und immer wieder fand ich sie auch im Alltag. Wenn nur das Mindset stimmte. Ich versuchte es mit Meditation, mit unfassbar vielen Drogen und bewsstseinserweiternden Substanzen, mit Beten, Yoga, Fasten … aber keine dieser Türen funktioniert auf Dauer, ich erreichte immer nur temporär einen Zustand des Friedens. Jedenfalls nicht so langfristig, wie ich es wirklich ersehnte. Das sind alles nur Drehtüren, man muss aufpassen, dass man nicht hängenbleibt darin. Irgendwann muss man durchgehen. Denn das Schöne, dass wir finden wollen, ist nur eine Seite der Medaille. Die andere zeigt sich erst, wenn in uns das aufsteigt, was wir um jeden Preis nicht sehen und fühlen wollen. Erst wenn das gesehen und gefühlt ist, kann es gehen und etwas wahrhaftig Neuem Platz machen. Und das Neue, das Unvorstellbare, das Wunder, das wir als Kind noch erlebten, geschieht nur von selbst. Es gibt keine Methode und keine Routine die uns ins Hier & Jetzt bringt. Als Kinder waren wir einfach nur DA.
Und dann suchte ich natürlich auch immer die Liebe, meinte mich vielleicht in diesem einen Menschen endlich wieder ganz selbst erfahren zu können, und für immer. Mit Happy End und so, wie im Märchenbuch, ihr wisst schon. Und was habe ich mir die Finger verbrannt an meinen vermeintlichen Seelenbegegnungen. Wo vorher nur Wunden waren, fehlten mir plötzlichen ganze Gliedmaßen, die ausgerissen wurden, wegen ein paar echten Gefühlen. Liebe entpuppte sich aber auch dadurch erst als etwas ganz anderes, als etwas viel Größeres als die märchenhaften Erfindung der Romantik oder New-Age-Spiritualität. Liebe bedeutet sich im anderen zu begegnen, aber dazu müssen alle Masken und Fassaden runter, und alle Vorstellungen verschwinden, und dann kann man sich FREI entscheiden, mit dem Herz, nicht mit dem Kopf. Ein weiter Weg, aber wer es auch nur für einen Moment erlebt hat, der braucht keine Worte mehr dafür, der geht diesen Weg.
All das Alte funktioniert so nicht mehr. Es wird jetzt Zeit wieder eine große Entscheidung zu treffen. Doch welche das ist, weiß ich nicht. Doch ich weiß aus Erfahrung inzwischen, dass sie mich finden wird, – dass, wenn ich es einfach geschehen lasse, sich das Richtige in mir offenbaren wird und die Entscheidung von selbst fällt. Man kann das Richtige nicht erzwingen. Und ich habe inzwischen eine große Gewissheit, wohin die richtigen Entscheidungen führen am Ende.
Nun, nichts gelingt mir mehr, nichts macht mehr Sinn gerade. Ich bin müde. Müde auch, mich zu erklären. Ich bin so oft aufgestanden in den letzten Monaten, um doch wieder zu fallen. Für jedes absurde Problem auf meinem wachsenden Problemberg, das ich löste, kamen drei neue, noch absurdere Probleme dazu. Es ist so unfassbar viel passiert und schiefgelaufen in den letzten zwei Jahren. Schaue ich zum Horizont, wird mir bange. Wie auf dem Meer, wenn ein Sturm naht. Alles droht schwarz. Tiefschwarz. Komplett verzettelt und verloren erwarte ich das Unwetter nun, das alles Alte wegfegt und eine neue Entscheidung bringt.
Ich bin nicht allein, habe auf meinem Weg ganz besondere Menschen kennengelernt, die mit mir zusammen gehen auch. Doch den letzten Schritt, die letzte Stufe müssen wir immer alleine wagen. Die Lyrikerin Hilde Domin schrieb einmal: „Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug.“ Diesen Satz ließ sie sich auch auf ihr Grab setzen.
Da stehe ich nun vor ihren Grab in Heidelberg oft. Und die einzige wirkliche Entscheidung in meinem Leben, die noch aussteht, kann eigentlich nur diese eine sein: Bin ich endlich bereit dazu, den Fuß in die Luft zu setzen, und will ich darauf vertrauen, dass sie mich trägt?! … mit anderen Worten: raus aus dem Kopf und rein ins wirkliche Sein, wie als Kind, mit Urvertrauen IM HERZEN!
Niemals zuvor lang ich so am Boden wie jetzt, alles was ich bisher im Leben bewältigt habe, erscheint mir geradezu lächerlich im Vergleich. Eine schwere Depression, ohne Zweifel, mal wieder. Und doch ist diesmal alles ganz anders, denn ich schaue ihr ins Gesicht und erkenne mich selbst. Was ich sehe passt nicht mehr in mein altes Leben. Was ich sehe ist ein Wunder, was ich spüre ist „Gott“ und was ich weiss, ist, dass wir alle so viel mehr sind, als dieses Theater hier, das wir auf diesem Planeten aufführen und mit dem Kopf dirigieren wollen. Aber wir haben doch gar keinen Plan, was wir hier eigentlich für einen Zirkus veranstalten. Wir können nicht Ansatzweise mit Gedanken begreifen, was für ein Wunder das hier alles ist und wir selbst sind! Wir würden uns schämen, wo wir es alle begreifen … schämen für unseren Egoismus und unsere Dummheit, uns für so klug und weit zu halten. Demut, (Mit)gefühl und Dankbarkeit sind das Elixier der Heilung jeder Depression. Nur dazu muss Licht ins Dunkel des Geistes, der sein Dunkel schon für ein Licht hält. Die Ent-Täuschung einer Depression befreit den Geist von seiner Täuschung. Das ist schmerzhaft, aber in Wirklichkeit ein Segen, wenn es erkannt wird.
Der große Mystiker Johannes vom Kreuz schrieb über die „Dunkle Nacht der Seele“ … und mir gefällt das besser, als „Depression“. Denn jeder Nacht folgt ein neuer Morgen, und je dunkler die Nacht, desto heller scheint das Licht danach.
Wenn du alles andere loslässt, und vertraust, entdeckst du dich selbst und deine Gefühle wieder. Und langsam begreifst du dann, dass du dich niemals wirklich verlieren kannst. Wo immer einer vor seinen Gefühlen davonläuft, muss ein anderer darunter leiden. Und so läuft die halbe Welt davon, während die andere Hälfte leidet. … wirklich glücklich wird so keiner.
Lasst das Alte und Falsche los, umarmt eure Schatten mit Mut und Vertrauen … und gebt euch selbst niemals auf. Heißt auch die Einsamkeit mal Willkommen, die sich zeigt, denn von ihr ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum „Einssein mit sich Selbst …. und Allem“.
Mehr als das weiss ich nicht sicher. Ich weiß vieles andere noch, aber davon weiß eben nichts richtig. Das andere ist eben doch nicht (mehr) meine Welt, ich passe dort wirklich nicht hinein. Und das ist gut so. Mein Scheitern in meiner alten Welt des Wissens und Funktionierens, fühlt sich hier und jetzt gar nicht mehr als Scheitern an. Wer nur funktioniert, wenn alles funktioniert, ist nur ein Zahnrad in einem Getriebe.
Viele Menschen, die sich selbst belügen, wissen viele schlaue Ratschläge, wie auch andere sich
weiter selbst belügen können. Doch steht einer erst einmal vor dem Abgrund der Realität, sind die Menschen rar, die mit ihm eine Brücke ins wirkliche Leben bauen können. Wer nur einen solchen Menschen in seinem Leben weiß, ist gesegneter als jeder, der jeden kennt. – für meine Freunde
PS: Zu diesem Text gibt es inzwischen auch eine Podcast-Folge:
https://soundcloud.com/janice-jakait/wenn-alles-verloren-scheint-no-96-janice-jakait