Zum zehnten Mal also, werde ich in wenigen Stunden 29 Jahre alt. Ich sitze im Korbsessel auf der Veranda, rauche eine Zigarette und habe die Arbeit am Buch für heute eingestellt, obgleich ich gerade erst die dritte Tasse Kaffee im Blut habe. Ich verspüre jetzt eher den Impuls, die letzen 12 Monate in einem Text ohne Kapitel und Index abzuhandeln. Vielleicht veröffentliche ich ihn auch. Entscheide ich erst nach dem letzten Satzzeichen.
Zwischen all den Reisen – Vorträge und Interviews -, zwischen den fruchtbaren und inspirierenden Begegnungen und Dialogen, ein roter Faden zieht sich durch das letzte Lebensjahr, an dem ich doch in jeder stillen Minute wieder anknüpfte: dieser innere Dialog, diese Reise hinein in mich selbst. Stundenlang – egal ob zu Fuß in den Wäldern, auf dem Gaspedal auf der Autobahn, im Bett – in jeder freien Minute: dieser Dialog mit mir selbst, dieses Ringen mit Gedanken, die einfach nicht begreifen wollten, dass sie nicht begreifen können. Klammern an alten Vorstellungen und Gewohnheiten – immer die gleichen alten Denk- und Handlungsmuster – wieder und wieder, bis sie einem mit 37 Jahren dann doch endlich mal zum Hals raushängen. Immer nur im Kreis. Bis du kotzt und keinen Bock mehr auf dieses Hamsterrad hast, bis du die Möhre vor der Nase nicht mal mehr riechen willst. Sie stinkt!
Man kann sich nicht selbst lieben, wenn man sich selbst nicht auch im anderen gefunden hat. Das ist wie, als wenn man sich selbst in die Augen schauen oder sich selbst küssen will. Klar, kann man machen, aber hat trotzdem nichts mit „LIEBE“ zu tun. Die Menschen, die wir als selbstverliebt abstempeln und verurteilen, bräuchten die Vergebung mindestens genauso dringend wie wir selbst. Sie sind unser Spiegel, in denen wir vermeintlich aburteilen können, was wir selbst in uns nicht ertragen wollen.
„Liebe ist die Abwesenheit von Urteil“
Jetzt sitze ich hier, beinahe 38 Jahre alt und schreibe im Sonnenuntergang über den Untergang meiner alten Welt, meiner vermeintlichen Identität einer ewigen Selbstoptimiererin und meinem Selbstverständnis, dass das Glück und die Zufriedenheit doch direkt vor mir liegen müssten. „Wenn ich doch nur noch … dann aber!“
Nun ist es still geworden in meinem Kopf. Es hat sich erschöpft, es ist ausgedacht. „Reductio ad absurdum“. Gefunden wurde nichts, nur ein leeres Ich, Inhalt von Gedanken, die mir 37 Jahre lang eingepflanzt wurden. „Ich“, eine leere, dehnbare Form, in der Konzepte angeblich zur Beständigkeit und Permanenz ausgehärtet werden könnten – eine Form, die treudoof auf Erfüllung und Unvergänglichkeit hoffte. Es ist still geworden, am Ende: nichts als Machtlosigkeit. Und plötzlich: Was für ein Er-Leben!
„Ich“ werde sterben. So profund.
Wusste ich immer, jetzt habe ich es endlich auch begriffen. Auch wenn der Weg ins Begreifen die Hölle war. Warum will man sich das Begreifen also antun, warum nicht weiter so tun als ob es nie … ? Warum nicht lieber weiter den Begieren nachrennen und Augen zu vor dem, was Angst macht?
Weil das zweite Leben angeblich beginnt, wenn man begreift, dass man nur eines hat. Und ja, das stimmt! Noch jede Meinung oder Theorie, jedes Selbst- und Weltbild, alle Verhaftung, all die Ziele … all das ist verloren, irgendwann. Und sonst so? Nach wie vor sitze ich noch im gleichen Zug der Kausalität wie früher, dieser schaukelnde Interregio ohne Klimaanlage, der einen vom Kreissaal bis zum Friedhof bringt – aber ich habe aufgehört, wie ein Idiot am Steuerrad zu drehen. Als ob das jemals etwas gebracht hätte … auf Schienen. Is klar! Alles was ich dachte, was ich sein könnte, erstickt zusammen mit dem Feuer der Neuronen in meinem Gehirn. Was bleibt, ist unberührt von Ursächlichkeit und Schicksal, liegt außerhalb von Macht und Kontrolle … ist frei von Vergangenheit und Zukunft, geht nie zu früh und kommt nie zu spät. Was bleibt ist Er-leben, Wahrnehmung und einfach so sein, wie ich bin und immer war. Und dann ist auch wieder die Welt, so wie sie einfach nur ist und immer war – und sie ist bunt und gewaltig, ist lebendig, bewegend und unfassbar schön … vollkommen, auch ohne unser Zutun und unsere Optimierungspläne im Perfektionswahn. Und darin sind wir dann eins, ich, die Welt, im So-Vollkommen-Sein. Ich weiß dann zwar nicht mehr, ob ICH glücklich und zufrieden bin, ohne den Kopf … aber das spielt auch keine Rolle mehr, wenn ich loslasse und mich einfach nur ganz im Rot einer Rose verliere, im Blau des Himmels auflöse oder mich im Schwarz der Buchstaben begreife, die ich gerade tippe. Man muss nicht alles nur wissen und verstehen, auch mich nicht.
„Ich“ werde sterben. Ende aller Selbsterkentnis und Machtfantasie. Wenn schon „Erleuchtung“, dann auch bitte die absolute Entäuschung des Egos. Alles andere liegt hinter den Gedanken und ich bin das, was sie denkt … bin kein Gedankeninhalt. Keine Ausrede mehr also, um nicht auch endlich richtig zu leben. Mit 38 Jahren, ein Privileg diese frühe Erkentnis. Ich wünsche Euch zu meinem Geburtstag gleich alles Gute, von Herzen, und auch Euch ein zweites Leben! Für das erste können wir nichts, das zweite aber, das liegt in unserer eigenen Verantwortung.